Leseprobe

Ich verließ das Gasthaus für einen Moment, um strullen zu gehen. Kaum trat ich dazu aus dem Lichtkegel der hinter mir zufallenden Tür, trat ich mit schmatzendem Geräusch in einen Kuhfladen. Natürlich. Niemand erwartet in einem Dorfgasthof im letzten Kaff der österreichischen Alpen im Jahr 1943 eine Hochglanz-Installation aus Emaille, aber ich hatte andererseits auch nicht erwartet, dass ich mir eine Toilette mit den Rindviechern würde teilen müssen.

Seufzend ging ich um den Gasthof herum, bis ich außer Sichtweite war, und erledigte dann zunächst mein Geschäft, das einfach keinen Aufschub mehr duldete. Prioritäten sind Prioritäten. Etwas erleichtert, aber immer noch verstimmt, ging ich danach auf den Dorfplatz zu. Dort stand eine einzelne Laterne, bei deren Licht ich mir den Scheiß an meinem Schuh genauer ansehen konnte. Er hielt sich in Grenzen. Ich war zwar gut in den Kuhfladen hineingetreten, aber wenigstens hatte meine Geistesgegenwart ausgereicht, um den Fuß sofort wieder zurückzuziehen. So waren meine Strümpfe und Hose unbefleckt geblieben. Ich hatte dennoch keine Lust, mit einem dreckigen und stinkenden Schuh zurück in den Gasthof zu gehen. Darum schlich ich mich die Böschung unterhalb des Dorfplatzes hinab zum Bach, wo ich hoffentlich mit ein paar großblättrigen Pflanzen, einigen Kieselsteinen und nicht zuletzt dem klaren Wasser des Bergbachs die größte Sauerei entfernt bekommen würde. Ich hatte den Weg zum Bach allerdings kürzer in Erinnerung und wäre im spärlichen Licht des Mondes, der sich durch die dünne Wolkendecke hindurch mühte, am Ende fast noch ins Wasser gefallen.

Ich fluchte leise vor mich hin, fand aber immerhin ein paar Rhabarber-ähnliche Pflanzen und begann mit der Reinigungs-Aktion.

Es ging erstaunlich gut voran, als ich plötzlich ein merkwürdiges Geräusch hörte, das ich für ein paar Sekunden nicht recht einordnen konnte. Es ist schon merkwürdig, wie sehr man seine Erwartungen nach einer Weile an seine Umgebung anpasst. In einem abgelegenen Bergdorf wie diesem, in diesem Kriegsjahr 1943 - da konnte es ja, beispielsweise, keine Autos geben. Ich sah auf.

Ein Auto kroch das dafür wahrhaftig nicht vorgesehene Sträßchen hinauf. Verdammt. Das konnte nichts Gutes bedeuten.

Ich beendete schnell meine Schuhputzerei, krabbelte vorsichtig wieder die Böschung hinauf, hockte mich im Schatten einiger Sträucher hin und wartete. Ein paar Minuten später fuhr der Wagen vor und blieb mitten auf dem Dorfplatz stehen. Es war - natürlich - einer dieser klobigen, funktionellen militärischen Kleintransporter. Die Ladefläche war leer, aber zwei Männer stiegen aus dem Führerhaus.

In SS-Uniformen. Scheiße, scheiße, scheiße!

Ich hielt meinen Atem an, während die beiden SS-Männer vor dem Wagen standen und sich berieten. Wenn die beiden aus dem Grund hier waren, aus dem ich dachte, dass sie hier waren, dann steckten wir ganz tief in der Scheiße. Und die Chancen dafür standen gut. Aber ich konnte im Moment nichts machen, als abzuwarten und zu hoffen, dass sie von den zwei Gasthäusern, mit denen dieses Kaff aufwarten konnte, als erstes genau in das falsche gingen.

Sie taten mir den Gefallen. Es schien mehrere Ewigkeiten zu dauern, bis sie sich endlich zu einer Entscheidung durchgerungen hatten, aber sie gingen in das andere Gasthaus. Ich hatte keinen Zweifel, dass sie dort unverrichteter Dinge würden abziehen müssen. Und dann würden sie in das andere, ebenso namenlose Gasthaus kommen, in dem sie genau das finden würden, was sie suchten. Ich musste Joe warnen.

Andererseits wäre es vielleicht auch eine gute Idee, herauszufinden, ob die beiden wirklich wegen uns hier waren. Ein paar Sekunden lang stand ich regungslos da und versuchte, zu einer Entscheidung zu kommen. Dann folgte ich den beiden in sicherem Abstand zu dem kleineren Gasthof auf der anderen Seite des Dorfplatzes. Ich sah durch das Fenster hinein. Es war relativ dunkel im Gastraum, aber der gesamte Raum war offen - keine Nischen oder dunkle Ecken, in denen ich mich hätte verstecken können. Die beiden SS-Leute standen an der Bar und sprachen offenbar gerade den Wirt an. Ich tat das einzige, das ich in der Situation tun konnte: Ich öffnete die Eingangstür einen Spaltbreit und versuchte zu lauschen, in der Hoffnung, dass niemand mich bemerken würde.

Erstaunlicherweise funktionierte es, was nicht so sehr an meiner Raffinesse lag, sondern mehr an glücklichem Timing. Ich stand noch keine fünf Sekunden in der halb geöffneten Tür, als sich meine Ohren an die Geräusche der Gaststube gewöhnt hatten und einen der beiden SS-Leute deutlich sagen hörten: "Drei bis fünf Erwachsene, das ist nicht so ganz klar, aber auf jeden Fall zwei Kinder. Die müssten Ihnen doch aufgefallen sein."

Alles klar. Die beiden suchten nach uns. Ich schloss die Tür vorsichtig, um nicht in letzter Sekunde doch noch Aufmerksamkeit zu erregen, und rannte quer über den Dorfplatz zurück zum anderen Gasthof.

In der Gaststube dort war die Beleuchtung deutlich heller, und ich brauchte einen Moment, bis sich meine Augen daran gewöhnt hatten und ich Joe ausmachen konnte. Er hatte den Platz an der Bar verlassen und saß jetzt an einem kleinen Tisch in der Ecke. Außer uns saß nur noch eine Handvoll Einheimischer versprengt herum, wahrscheinlich, weil bald Sperrstunde war. Aber an der Bar erklärte einer der örtlichen Bauern einem anderen lautstark den entscheidenden Unterschied zwischen einem Tiroler und einem Vorarlberger. Zum Glück brauchte man nur einen einzigen wie ihn, um auch in öffentlichen Räumen vertrauliche Gespräche führen zu können. Ich ließ mich auf den Stuhl neben Joe fallen.

Er sah zu mir auf. Seine sprichwörtliche Reaktionsgeschwindigkeit hatte ihn offenbar verlassen. Kein Wunder - wenn mich das Adrenalin nicht angetrieben hätte, wäre ich vermutlich auch inzwischen an Ort und Stelle eingeschlafen. "Wo warst du denn die ganze Zeit?" fragte er und fügte verschwörerisch hinzu: "Sag nicht, du hast wieder ein echtes WC gesucht."

Ich sah mich noch einmal um, bevor ich antwortete - egal, wie paranoid das auf die übrigen Gäste wirken mochte. Dann flüsterte ich: "Zwei SS-Männer sind hier, in der anderen Kneipe. Auf der Suche nach uns, ich hab sie belauscht."

"Scheiße."

"Exakt meine Worte."

Joe starrte auf den Tisch vor sich, und ich fragte mich ernsthaft, wie viel er schon getrunken hatte. "Was sitzt du da einfach so? Wir müssen hier weg!"

Er fixierte mich, auf diese unangenehme Art, auf die Joe manchmal Leute fixierte. "Was schätzt du, wie viel Zeit haben wir noch?"

"Wenn wir Glück haben, noch ein, zwei Minuten", sagte ich. Ich wurde zunehmend nervös. "Wenn wir Pech haben, laufen wir ihnen vor der Tür direkt in die Arme."

"Eben", sagte Joe gedankenverloren, und dann rief er plötzlich laut: "Traudl!" Ich zuckte zusammen. Aber Joe grinste und raunte mir zu: "Keine Sorge, ich habe einen Plan."

Nun ja, das war mehr, als ich hatte. Also beschloss ich, mich in mein Schicksal zu fügen. Joes Pläne waren nicht unbedingt immer das Gelbe vom Ei, aber bisher hatte uns zumindest noch nie jemand erschossen. Oder gefoltert. Oder auch nur gefangen genommen. Was konnte man mehr verlangen?

Die Bedienung, eine brünette Schönheit Ende Zwanzig und mit großer Sicherheit die Tochter des Wirtes, kam an den Tisch. "Was brauchts noch?" fragte sie in dem harschen Vorarlberger Dialekt, obwohl sie eigentlich versuchte, hochdeutsch mit uns zu reden. Wir hatten ihr erzählt, wir seien norddeutsche Ingenieure, die im Nachbartal eine Studie für einen Stausee durchführen sollten. Es war eine höchstens mäßig plausible Tarngeschichte für zwei gesunde, männliche Zivilisten im besten Wehrmachtsalter mit norddeutschen Dialekten, die plötzlich im hintersten Winkel der großdeutschen Alpen auftauchten. Aber für die Dorfbevölkerung hatte sie bisher gereicht. Ich ging allerdings davon aus, dass sich die SS nicht so leicht hinters Licht führen lassen würde.

Joe grinste Traudl, die Bedienung, an. "Als allererstes hätten wir gern noch zwei Obstler - ach, weißt du was, bring uns gleich vier, für jeden zwei." Ich fragte mich, ob Joes Plan dahin ging, unsere bevorstehende standrechtliche Erschießung dadurch abzumildern, dass wir uns dabei im Alkoholrausch befanden. Aber Joe fuhr fort: "Und dann... komm mal näher..."

Traudl setzte sich auf den freien Stuhl neben Joe und lehnte sich zu ihm hin. Er legte seine Hand auf den Tisch und schob sie zu ihr hin. Dann hob er sie kurz an, und ich sah für einen Sekundenbruchteil einen Geldschein darunter. "Da draußen laufen zwei SS-Männer herum", sagte Joe zu Traudl, und meine Augen weiteten sich vor Schreck. "Die suchen uns, weil wir ihnen eigentlich - rein technisch gesehen - unterstehen und Bericht erstatten sollen. Wir haben aber nichts zu berichten, weil wir... ein bisschen faul gewesen sind. Wir werden wohl nicht drum herum kommen, ihre Bekanntschaft zu machen. Aber wir könnten so tun, als wären wir total betrunken, dann werden sie nicht viel von uns erwarten. Kannst du uns dabei unterstützen? Kannst du ihnen sagen, wir wären hackedicht?"

Traudl streichelte Joes Unterarm, legte ihre Hand dann auf seine. Joe zog seinen Arm zurück - mit leichtem Bedauern, wie mir schien - und der Geldschein wechselte den Besitzer. "Natürlich", sagte sie, und stand auf - um unsere Obstler zu holen, hoffte ich, und nicht, um uns zu verraten und sich bei der örtlichen SS einzuschmeicheln. "Das ist dein Plan?" fragte ich entgeistert.

"Verstecken in aller Öffentlichkeit", sagte Joe, während er vom Nachbartisch leere Bier- und Schnapsgläser nahm und auf unserem Tisch abstellte. "Uralte Strategie."

"Wie soll das funktionieren!?"

Joe ignorierte das Rhetorische an meiner Frage und antwortete leise: "Wenn sie Widerstandskämpfer oder Fluchthelfer suchen, werden sie niemanden verdächtigen, der sich volllaufen lässt. Das wäre ja Selbstmord."

"Allerdings. Was ist mit..." Traudl brachte uns den Schnaps. Sie lächelte Joe an, mich würdigte sie kaum eines Blickes. "... mit ihr?" fuhr ich fort, als ich sie wieder außer Hörweite wähnte.

"Sie hasst die SS. SS-Besuche sind schlecht fürs Geschäft. Trink! Du musst nach Alkohol riechen." Ich schüttelte den Kopf, aber was sollte ich machen? Ich trank den scharfen, zweifellos selbst gebrannten Schnaps auf ex und hoffte, dass ich davon nicht erblinden würde.

"Außerdem ist sie geldgeil", fügte Joe hinzu.

Und dann traten die SS-Männer in die Gaststube. Mit einem Schlag wurde es still im Raum - vor allem, weil der Redenschwinger am Tresen bei ihrem Anblick ins Stocken geriet.

Ich trank den zweiten Schnaps. Wenigstens würde ich nicht nüchtern sterben.


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